J. Courtney Sullivan

All die Jahre

sara gerner

Wie weit würde ich für meine Familie gehen? Was würde ich für sie riskieren, für sie auf mich nehmen? Und was würde ich ihr verzeihen? Diese Fragen stellten sich mir wiederholt, als ich den neuen Roman von Sullivan las.
„All die Jahre“, im Englischen „Saints for All Ocassions“, erzählt die berührende Geschichte zweier Schwestern, welche in den 50ern aus Irland nach Amerika auswandern. Obwohl sich ihre Wege bald spalten, finden die zwei immer wieder zusammen, bis sie sich endgültig zerstreiten. Ausgerechnet ein Todesfall bringt die ältere Schwester Nora dazu, sich wieder bei Theresa zu melden. 
Die Geschichte beginnt mit jenem Todesfall und endet am Tag des Begräbnisses. Die Handlung springt zwischen dem gegenwärtigen Zeitpunkt 2009 und der Vergangenheit (Ankunft in Amerika, Aufenthalt, Trennung der beiden Schwestern) hin und her. Hinzu kommen die Sichtpunkte und Erlebnisse der drei übriggebliebenen Kinder von Nora, welche immer wieder deutlich machen, wie wenig man oft von seiner eigenen Familie weiß, obwohl sie einem so nahezustehen scheinen. 
Anfangs kam ich aus meinem Seufzen kaum heraus, denn im zweiten Teil fand ich die Dialoge sehr flach und unausgefüllt – in einigen Szenen hätte ich mir eine Konfrontation gewünscht (Walter & Theresa; Walter & Nora; Nora, als sie Patrick nimmt; Nora & Charlie). Auch die Beziehung zwischen den zwei Schwestern und ihren umstehenden Personen empfand ich zum Teil als herzlos und oft karg. Mich begleitete das Gefühl, dass Sullivan hier selbst noch nicht sicher ist, wohin sie ihre Personen führen werden oder dass sie so schnell wie möglich zu dem Punkt kommen wollte, in dem das tatsächliche Familiendrama ihren Anfang findet. Ab dem dritten Teil begannen für mich die Überraschungen, zuvor noch eher gelähmt, fing ich nun an, mich in die verschiedenen Personen – das vor allem durch die Sicht der erwachsenen Kinder gefördert wurde – hineinversetzen zu können. Sullivan beweist hier einen unglaublichen Griff in der Darstellung verschiedener Charaktere, die plötzlich alle beachtlich viel Tiefe vorweisen können. Die Dialoge werden stimmig, die Beziehungen nachvollziehbar und erstaunlich authentisch. Sie gingen mir richtig nahe und erinnerten mich dauerhaft an meine eigene Situation. Besonders hervorheben möchte ich, wie Sullivan mit der Sympathie ihrer Charaktere spielt. Während ich in Noras Sicht immer auf ihrer Seite und gegen Theresa war, wandelte sich dies in Theresas Sicht. Ähnlich war es auch bei ihrem Sohn John, der sich mit seinem älteren Bruder Patrick zerstritten hatte – auch hier wechselte die Sympathie, was dazu beigetragen hat, die Personen authentisch zu machen und tief werden zu lassen. Sullivans Schreibstil ist sehr ruhig, während mir anfangs reflektive Fragen zu den Situationen fehlten, wurden sie zum Ende hin immer besser und fassbarer. Es stimmte zum Teil nachdenklich, vor allem da diese Familiensituationen bestimmt etwas sind, was jeder und jede nachvollziehen können. Mit den drei Kindern hat Sullivan einen Zugang gelegt, der wohl jeder Person einen Zutritt verschafft. Sie zeigt, wie unperfekt Familien sind und wie sehr man oft glaubt, das Beste für den anderen zu tun und dabei einen riesigen Fehler begehen kann.
Zusammenfassend bin ich überraschend zufrieden mit diesem Roman und wurde mit einem sehr ausgewogenen, friedlichen Gefühl zurückgelassen – als würde mir diese Geschichte die Berechtigung verleihen, Geheimnisse vor meinen Eltern haben zu dürfen, genauso wie sie vor mir, als wäre es völlig okay, dass eine Familie nicht immer funktionieren kann. Eine wirklich gelungene Familiensituation, die einem ein bisschen Frieden kann.

All die Jahre

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