Im Bad der Menge Indes 2012 Jg. 1
»Massenveranstaltungen«: Das Heft widmet sich einem höchst zeitgemäßen Thema. Einerseits. Andererseits mutet dieser Schwerpunkt seltsam unzeitgemäß an. Schließlich ist die Ära der großen homogenen gesellschaftlichen Blöcke seit einigen Jahrzehnten vorüber. Klassen, Schichten, auch Milieus zerfasern in immer kleinteiligere Lebensstilgruppen, die Großorganisationen von einst leiden unter einem scheinbar unaufhaltsamen Auszehrungsprozess. Die »Masse« scheint passé – jedenfalls zur Charakterisierung der (europäischen und nordamerikanischen) Gegenwartsgesellschaften. Treffendere Schlagworte lauten stattdessen Individualisierung, Flexibilisierung und Pluralisierung. Es ist insofern kein Zufall, dass Massenereignisse oftmals mit einer abgeschlossenen Vergangenheit oder mit diktatorischen Regimen assoziiert werden. Auch in diesem Heft befassen sich mehrere Texte mit historischen Ereignissen, so Franz Walter und Stine Marg in ihrer Analyse der Wahlrechtsdemonstrationen der deutschen Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges und Lars Geiges mit seinem Porträt des Bonner Hofgartens als Protestort. Wolfgang Kraushaar blickt auf die westdeutsche Linke in den 1960er und 1970er Jahren und fragt nach der biographischen Prägung durch die Teilnahme an –gewaltbehafteten – Großveranstaltungen. Bezüge zu nicht-demokratischen Herrschaftssystemen stellen Roland Hiemann mit einer Schilderung des nordkoreanischen Arirang-Festivals und Ilko-Sascha Kowalczuk mit seiner Darstellung der Massendemonstrationen in der DDR im Jahr 1989 her. Doch wäre es ein Irrtum, zu glauben, dass Massenereignisse in den Demokratien der Gegenwart unbekannt wären. Dies ist mitnichten der Fall, wie seit einigen Jahren die spürbare Häufung von Massenzusammenkünften vor allem im Bereich des Sports, insbesondere bei Fußballturnieren, markant belegt. Lars Deile widmet sich dieser Fußballfestkultur. Einiges spricht sogar dafür, dass gerade in den auf Individualität gründenden Gegenwartsgesellschaften das punktuelle ekstatische Abtauchen im anonymen »Meer von Gleichgesinnten« ein besonders notweniges Ventil sein dürfte, wie z. B. Yvonne Niekrenz am Beispiels des Rheinischen Karnevals illustriert. Zudem verändern sich auch die Beteiligungsformen, man denke nur an Flash Mobs – und reagieren insofern auf die veränderten Partizipationsansprüche, die Johanna Klatt auf die Schlagworte »allein, informell und fl exibel« verdichtet. Und natürlich geht es auch um die jüngsten aufsehenerregenden Massenproteste . Elke Endert analysiert die Rolle von Gefühlen bei Stuttgart 21, Occupy und dem Arabischen Frühling, Thorsten Hasche fragt, was von den Protesten auf Kairos Tahrir-Platz übrigbleibt. Dass die »Macht der Massen« aber auch zu Fehleinschätzungen und Illusionen über die eigene Stärke verleiten kann, über diese Ambivalenz schreibt Franz Walter, der dem kommunistischen Fehlkalkül in der Friedensbewegung nachspürt.