Literatur im Krebsgang Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989
Wie keine andere wimmelt die deutschsprachige Gegenwartsliteratur von Gespenstern, die unverarbeitete, verdrängte und unsichtbare Aspekte der Vergangenheit enthüllen. Während der Fall der Mauer 1989 als jüngstes Emblem historischer Dynamik und als 'Schritt vorwärts' im Heilungsprozess der Kriegsnarben betrachtet wurde, verhält die Literatur sich seit Anfang der neunziger Jahre widerspenstig, indem sie sich immer wieder der Geschichte zuwendet und deren Toten heraufbeschwört. Mit diesem Hang zur Nekrophilie stellt die Literatur sich gegen den oft von Aktualitätszwang und selektiver Amnäsie geprägten Diskurs des politischen Alltags, der allenfalls auf ein vereinheitlichendes, kollektives Gedächtnis zurückgreift. Literatur stellt sich somit als ein Medium heraus, das – so Günter Grass in seiner Krebsgang-Novelle – der Zeit “schrägläufig in die Quere” kommt, “etwa nach der Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen”. Der BandLiteratur im Krebsgang versammelt Studien zu einer Topik, die in der deutschsprachigen Literatur seit dem Mauerfall Hochkonjunktur feiert:memoria und Spektralität. Das gängige literarische Thema der 'deutschen Vergangenheit' wird vertieft, indem der Fokus auf die Wirkung literarischer Totenbeschwörungen als Metapher einer subversiven politischen Archäologie gelegt wird. Mittels mikrologischer und theoretisch reflektierter Textlektüren werden die hybriden und komplexen Formen des Rückblicks und der Durcharbeitung kollektiver, singulärer, traumatischer oder unheimlich konformer Geschichten untersucht. Die Beiträge zeigen dabei nicht nur den Unterschied zu den älteren Diskursen der Vergangenheitsbewältigung auf, sondern tragen auch wesentlich zur komplexen theoretischen Reflexion über die Beziehung zwischen Literatur und Geschichte(n), Text und Tatsache, Schrift und Trauma bei. Dieses Nachdenken über den Modus des Nach- und Fortlebens der Toten wird nicht zuletzt in einem Originalbeitrag von Reinhard Jirgl und einem Gespräch mit W.G. Sebald kurz vor seinem Tod weiter vertieft.