Die Kunst der gelebten Zeit zur Phänomenologie literarischer Subjektivität im englischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts
Das Konzept der 'Gelebten Zeit' ist der kulturellen Anthropologie und insbesondere der phänomenologischen Psychopathologie Eugène Minkowskis entlehnt. Der Begriff impliziert, dass menschliches Bewusstsein die Zeit in verschiedenen Dimensionen zugleich erfährt. Die vorliegende Studie zeigt, dass solch ein unproblematisch empfundener Synchronismus im englischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts nur noch als fernes anthropologisches Desiderat erscheint. Die gelebte Zeit avanciert vielmehr zum zentralen inhaltlichen wie strukturellen Problem dieser Romane. Es wird von vier Dimensionen der gelebten Zeit ausgegangen: Zeitlichkeit/Thermodynamische Zeit - Soziale Zeit - Subjektive Zeit - Mythische Zeit. Diese werden in ihren philosophischen Wurzeln erläutert, wobei insbesondere der philosophische Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Darwin, Schopenhauer, Nietzsche, Freud) in den Blick genommen wird. In einem zweiten entscheidenden theoretischen Schritt argumentiert die Studie, dass die behandelten Romane zu 'Zeitromanen' werden: Die Zeit ist in ihnen nicht nur ein allen Erzähltexten inhärentes Strukturcharakteristikum, sondern wird über dies hinaus selbst zum Thema der Romane. Exemplarische Einzelanalysen weisen eine fiktionale Kon- und Refigurierung (P. Ricœur) von Zeiterfahrung an Paters Marius the Epicurean, Wildes The Picture of Dorian Grayes:, Hardys Jude the Obscure, Stokers Dracula, Conrads Lord Jim und Wells' The Time Machine nach. Indem sie die subjektive Zeiterfahrung und das Lebensgefühl des panta rhei in den Vordergrund rücken, werden die Romane des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu Vorbereitern einer modernen Ästhetik der Differenz.