Tove Ditlevsen

Roman

Gesichter

Lea Hi

Aber was war in dieser Welt wirklich und was nicht? War es nicht auch eine Art Krankheit, dass die Leute durch die Gegend spazierten und ihr eigenes Ich festhielten? Dieses ganze Chaos aus Stimmen, Gesichtern und Erinnerungen, die sie nur tröpfchenweise entweichen ließen, ohne sicher sein zu können, sie jemals wiederzubekommen.

Die Welt breitete ihre wahnsinnigen Flügel aus und flog einer Wirklichkeit entgegen, die nicht ihre eigene war. Alle Schwere verließ sie, und sie starrte in einen blauen Himmel, der mit Erinnerungen gesprenkelt war.

»Die Wirklichkeit«, sagte er, »existiert nur in Ihrem Gehirn. Wenn Sie das verstehen würden, ginge es Ihnen viel besser. Sie existiert objektiv betrachtet gar nicht.« Wo existiere ich denn dann?«, fragte sie. »Im Bewusstsein der anderen«, erklärte er geduldig, als spräche er mit einer widerspenstigen, aber begabten Schülerin.

Sie schliefen, und ihre Gesichter waren friedlich und fern und würden erst morgen wieder gebraucht. Vielleicht hatten sie ihre Gesichter sogar sorgfältig auf ihrer Kleidung abgelegt, denn Gesichter mussten sich ausruhen und waren beim Schlafen auch nicht dringend notwendig. Tagsüber veränderten sie sich unablässig wie Spiegelungen in aufgepeitschtem Wasser.

Celine

Als sie sich von ihren Kritikern in die Ecke getrieben fühlte, bezeichnete Tove Ditlevsen den Modernismus einmal öffentlich als » Klempnerlyrik«, die sich eher mit rostigen Wasserleitungen beschäftige als mit dem Menschen. Deshalb verbringt Lise Mundus nicht zufällig viel Zeit in surrealen »Badezimmern mit langen, gewundenen, geheimnisvollen Rohren, über deren Funktion nur der Klempner etwas wusste«, wie es in Gesichter heifßt, und weiter: »Lise wusste wiederum nichts über Klempner.« 

»Ein neues Gehirn?«, fragte Lise verblüfft. »Ja, sicher.« Frau Kristensen sah mit einem geduldigen Blick von ihrem Strickzeug auf. »Warum denn nicht? Man transplantiert doch auch Herzen.«

Liebe«, sagte er, »macht egoistisch. Alle anderen Menschen auf der Welt werden einem gleichgültig.«

Er hatte oft gesagt, es gebe genug Menschen und Bücher auf der Welt. Jede Ergänzung sei lediglich eine Wiederholung. 

Jeden Abend, wenn sie ihr Zimmer aufräumten, mussten sie ihre Gedanken für die Nacht einfangen wie Vögel, die man in ihren Käfig lockt. Manchmal geriet ein Gedanke dazwischen, der gar nicht ihr eigener war, und dann wussten sie nicht, wohin damit. Voller Eile, denn sie waren immer müde, stopften sie ihn hinter einen Schrank oder steckten ihn zwischen zwei Bücher ins Regal. Doch wenn die Mädchen dann wieder erwachten, passten die Gedanken nicht mehr zu ihrem Gesicht, das sich im Schlaf aufgelöst hatte wie eine Faschingsmaske, deren steife Pappe gerissen und vom warmen Atem durchweicht war.

[…] denn Gesichter mussten sich ausruhen und waren beim Schlafen auch nicht dringend notwendig. Tagsüber veränderten sie sich unablässig wie Spiegelungen in aufgepeitschtem Wasser. Augen, Nase, Mund, wie konnte dieses schlichte Dreieck bloß so unendlich viele Variationen enthalten? 

Ein spannender und bewegender autobiographischer Roman. Tove Ditlevsen verwischt die Grenzen zwischen Realität und Wahrnehmung. Die Protagonistin versucht die Erwartungen anderer hinter sich zu lassen, zurück zu sich selbst und zu ihrer Wirklichkeit zu finden und aus den gesellschaftlich konstruierten Bildern von Gesundheit, Krankheit und "Wahnsinn" auszubrechen.

Ihre Schreibweise und Geschichten erinnern mich sehr an Peter Stamm - einer meiner Lieblingsautoren. Parallelwelten ist hier das Stichwort, zwischen Realität und Fiktion. Ich würde behaupten, Ditlevsens „Gesichter“ naht vergleichsweise viel mehr an Fiktion, obwohl „Gesichter“ sogar - wie im Nachwort erläutert, als eine Autobiographie verstanden werden könnte. Dieses Buch hat mich definitiv angereizt mehr von Tove Ditlevsen zu lesen. 

Gesichter Roman

Reviews

Highlights