Armeen und ihre Deserteure vernachlässigte Kapital einer Militärgeschichte der Neuzeit
Der archimedische Punkt politischer Herrschaft ist ihr Anspruch auf die Ausübung legitimer Gewalt. Dafür werden Menschen in Dienst genommen und erheblichen Gefahren ausgesetzt. Deserteure stellen diesen Anspruch in Frage. Trotz der Brisanz dieses Themas schweigen die meisten Geschichtsbücher darüber. Wenn die Desertion überhaupt öffentlich thematisiert wurde, dann zumeist in einer zeitlich und politisch verengten Perspektive.In diesem Band wird die Desertion nicht als isoliertes Phänomen betrachtet. Die Beiträge behandeln die Desertion und die Deserteure von den Söldnerheeren des 16. Jahrhunderts bis zu den Berufs- und Wehrpflichtarmeen der Gegenwart. Wie wurde der Militärdienst politisch gerechtfertigt? Wie wirkten sich die Art der Rekrutierung, die Behandlung und Versorgung der Soldaten auf die Desertion aus? Was bestimmte die Motivation, die Loyalität und die Einsatzbereitschaft der Soldaten? Wie wurde Desertion juristisch, politisch, moralisch und zuweilen sogar medizinisch bewertet, wie wurde sie verfolgt und bestraft? Es zeigt sich, daß die Geschichte der Desertion nicht von der Geschichte des Militärs zu trennen ist. Desertion ist immer eine Reaktion auf militärische Normen und Anforderungen, sie bringt epochenspezifische militärische Strukturen zum Ausdruck. Mehr noch: Da die Menschen kaum irgendwo so direkt dem Zugriff der politischen Herrschaft ausgesetzt sind wie in der Armee, wirft die Geschichte der Desertion in der Neuzeit auch ein Licht auf das moderne Staatswesen von seiner ersten Ausformung als Fürstenstaat bis zum modernen Verfassungsstaat.Dieser Band vermittelt einen ersten Überblick über ein Thema, das von der historischen Forschung gerade erst entdeckt wird.