Der Geist des Widerspruchs III Studien zur Dialektik
Philosophie ist, seit ihren Anfängen bei Homer und den Vorsokratikern, der Versuch zu begreifen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«: um eines guten, vernünftigen Lebens willen. Wahrheit war immer schon nicht eine bloß theoretisch-gedankliche, sondern eine praktische Idee. Praxis steht nicht jenseits der Liebe zur Weisheit, sondern ist deren Zentrum. Indem Sokrates, als erster, die »Philosophie vom Himmel heruntergerufen, sie in den Städten angesiedelt« hatte (Cicero), um dort die Bürger ihrer Selbsttäuschung zu überführen, eröffnete er den Zusammenhang von dialektisch-vernünftiger Aufklärung und Praxis. Das Bewußtmachen von »unbewußt« herrschenden Verhältnissen (Engels, Marx) durch die »ihrem Wesen nach kritische und revolutionäre« Dialektik (Marx) impliziert das »Ändern der Umstände« und damit die »Selbstveränderung« – »revolutionäre Praxis« (Marx). Dialektik und Revolution richten sich auf die Verwirklichung der Vernunft – einer Gesellschaft, in der die Menschen sich ihrer selbst und ihrer Verhältnisse bewußt sind. Durch diesen Zusammenhang von Dialektik und Revolution ist die Dialektik keine Methode, die unabhängig von jedem Inhalt, auf jeden Inhalt anwendbar ist und insofern eine überhistorische Geltung beansprucht. Dialektik ist über die aufzuklärenden Verhältnisse nicht hinaus: Das herrschende Bewußtlose reicht in sie noch hinein als ein Dogmatismus, durch den sie »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«. Die dialektische Theorie der Gesellschaft ist nicht bereits im Reiche der Vernunftfreiheit; die Aufklärung des bewußtlosen Allgemeinen ist nicht ohne die Selbstaufklärung der Dialektik, ihres dogmatischen Gehalts, möglich. So kann Dialektik nicht als Methode fixiert und gelehrt, sondern nur exemplarisch vorgeführt werden: durch eine systematische Theoriegeschichtsschreibung, die der Geschichte der Aufklärung nachfolgt – deren Genese, deren Verfall. Durch diesen Zusammenhang von Dialektik und Revolution ist eine Theorie der Revolution nicht zu formulieren, die als Lehre des Umsturzes der Verhältnisse eine überhistorische Geltung beansprucht: die in allen Formen revolutionärer Praxis überhistorische Konstante zu entdecken sucht. Wie die Dialektik allein als Kritik durch eine systematische Theoriegeschichtsschreibung entfaltet werden kann, so kann über Revolutionen nur gesprochen werden durch die systematische Darstellung der Geschichte gesellschaftlicher Revolutionen: durch eine kritische Aufklärung, die an allen bisherigen Revolutionen den Anspruch auf Befreiung von persönlichen oder unpersönlichen, stets undurchschauten Herrschaftsverhältnissen freilegt, unter dem die bisherige Gewaltgeschichte durch Rationalisierung reproduziert wird. Die zentralen Fragen lauten: Welche gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Widerstände standen der Verwirklichung der Vernunft entgegen? Warum »wurden immer wiederkehrende Revolten und Revolutionen von Gegenrevolutionen und Restaurationen gefolgt.« (Marcuse) Gerhard Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Professor am Institut für Soziologie der Universität Hamburg. Seit 2010 arbeitet er als freier Schriftsteller in Hamburg.