
54 Minuten Jeder hat Angst vor dem Jungen mit der Waffe
Reviews

„This is where it ends“ gefällt mir als Titel um einiges besser als „54 Minuten“ – aber das ist Geschmackssache, wie die meisten Aspekte, die ich in dieser Rezension ansprechen werde. Der Roman erzählt von einem Amoklauf in der Opportunity High, einer kleinen Highschool, in einem noch kleineren Ort. Das neue Halbjahr beginnt und nach der Rede der Direktorin in der Aula, kann niemand den Raum verlassen, denn die Türen sind verschlossen. Schließlich stürmt der achtzehnjährige Tyler mit einer Waffe den schüler- und lehrerbesetzten Saal. Ich habe bis jetzt zwei Jugendromane gelesen, in denen es ebenfalls um Amokläufe ging (Morton Rhue mit „Ich knall‘ euch ab“ und von Jennifer Brown „Die Hassliste“), auch habe ich mich mit einer Sammlung von Winnenden auseinandergesetzt. Rhue und Brown zeigen einen ähnlichen Zugang – ihre Geschichte spielt nach dem Amoklauf, zwar hat Brown immer wieder Rückblenden, aber ihr Buch füllt sich sehr stark mit dem „Danach“ und mit einer intensiven Kritik an die Presse, während bei Rhue jeder und jede eine Aussage machen kann, während von den Amokläufern „nur“ die Abschiedsbriefe wirklich erhalten bleiben. Gemeinsam haben die zwei Autoren auch, den Amokläufern eine subjektive Geschichte zu schenken und sehr genau hervorzubringen, warum sie zu diese Tat begangen haben. Dementsprechend schätze ich es sehr, dass Nijkamp sich traut, den stattfindenden Amoklauf in der Gegenwart zu erzählen, was ihr in meinen Augen nicht immer glückt. Einige Sätze trafen mich tatsächlich ins Herz, ließen mich frösteln und haben mich mit schreckgeweiteten Augen weiterlesen lassen. Auf der anderen Seite steht aber ein oft dumpfer Schreibstil, der sich inhaltlich manchmal wiederholt und somit viel Spannung aus dem Roman herausgenommen hat. Für mich ist der größte Bruch in der Geschichte die Aufspaltung von Opfern und Täter, von Mörder und Helden. Sie scheint durch die Perspektive von Autumn sehr darin bemüht, Tyler etwas Menschliches zu geben – auch Claire könnte hier als Exfreundin einiges dazu beitragen, allerdings scheitert dieser Versuch daran, dass sowohl Claire, als auch Autumn die Schuld bei sich selbst suchen und sehr klare Gegenüberstellung von vergangenen und gegenwärtigen Tyler schaffen, ohne eine Brücke dazwischen zu schlagen. Dass Tyler nach wie vor ein Mensch, ein Jugendlicher ist, geht immer mehr verloren, je länger der Roman dauert. Hier sollen keinesfalls seine Taten gerechtfertigt werden – aber die Sache ist die, auch wenn ich Morden/Töten/Folter als extremst unmenschlich empfinde, ändert es (leider) nichts daran, dass dahinter ein Mensch steckt, der diese Tat verursacht. Ich müsste Rhue und Brown nochmal lesen, um feststellen zu können, wo sie den menschlichen Aspekt eingebracht haben, allerdings meine ich mich zu erinnern, dass ich bei ihnen nie das Gefühl hatte, dass die Amokläufer unmenschliche Monster, sondern Jugendliche mit einem komplexen Charakter und einer menschlichen Geschichte sind (ohne hier etwas vereinfachen zu wollen). Es erreicht für mich seine Spitze, als Tomás Tyler als ein Wesen schildert, welches von Dämonen besessen ist (was in gewisser Weise vielleicht sogar stimmt zum Beispiel besessen von Depression), allerdings treibt mich diese Aussage noch mehr in die Richtung, Tyler als Monster und nicht mehr als Menschen zu sehen. Auch die Vergewaltigung empfand ich eher als weiteren Punkt, Tyler zum Monster zu machen, als hier wirklich mit Sylv leiden oder ihre Gefühle, ihre Angst besser nachempfinden zu können. Tyler entwickelt sich zu einem Klischee – tote Mutter, trinkender, schlagender Vater, Mobbingopfer, Einsamkeit – das nicht aufgebrochen wird, denn genau das scheint es zu sein, was man von einem jugendlichen Amokläufer erwartet, oder? Grundsätzlich hat mir die Darstellung der restlichen Charaktere – auch die Wahl der Perspektiven – im Ansatz gut gefallen (hier wäre allerdings, wie auch eine Freundin bereits erwähnte, in Erwägung zu ziehen, ob nicht eine Sichtweise von Tyler brauchbar gewesen wäre). Wie bereits kurz erwähnt hätte Nijkamp aus Autumns Sicht definitiv mehr herausholen können, hier war mir oft die Präsenz zu stark, dass sie selbst ein Opfer ihres Vaters ist (und nicht, dass sie gemeinsam ein Opfer ihres Vaters sind), außerdem hatte ich bei ihr eher das Gefühl, dass sich in ihrem Kopf der Charakter zu Tyler erst bilden muss. In einem Moment unterstützt er ihr Tanzen, dann verpetzt er sie an ihren Vater – was ja „aus Versehen“ war – aber auch hier fehlt mir eine Art Reflexion. Zwar kann ich mir vorstellen, dass damit eine gewisse Zwiespältigkeit in Autumn dargestellt hätte werden sollen, allerdings ist diese für mich viel zu flach ausgefallen. Außerdem finde ich es schade, dass nie eine Parallele zwischen Tomás und Tyler gezogen wird (beide große Brüder, beide bemüht, ihre Schwester zu beschützen). Was mir noch zu wenig war, war die Anspielung auf die Nachrichten. Dies ist vermutlich schwer – da im Gegensatz zu Brown – das Ereignis gerade stattfindet und im Nachhinein viel besser dargestellt werden kann, wie verhetzt und gierig die Presse bei solchen Geschehnissen sein kann. Aber vielleicht hätte man hier eine Reporterin/einen Reporter einbauen können, der sich Claire aufdrängt, zufällig ihr verzweifeltes Telefonat mit Matt belauscht hat und ihr nun tausend unangenehme und unangebrachte Fragen stellen möchte. Mit der Übersetzung bin ich immer zu streng. Ich weiß, ich rede hier definitiv von etwas, wovon ich nur ahnen kann, wie schwierig das tatsächlich ist. Aber „Leviten lesen“ und „nicht mehr des Lebens froh“ sind für mich einerseits zu altmodisch (zumindest für ein Jugendbuch) und „des Lebens froh“ ist für mich zu unkreativ. Der Schreibstil selbst war an manchen Stellen etwas platt, baute sich meist erst am Ende einer Perspektive zu einer dramatischen Spitze auf (allerdings zum Teil mit sehr guten Fragen -> „Was sind wir jetzt? Ein Ereignis in den Nachrichten?“), andererseits gab es einige langatmige Stellen – dies liegt (denke ich) unter anderem daran, dass dieselben Phrasen wiederholt werden, wie zum Beispiel sein Geschwisterteil beschützen zu müssen oder sich verantwortlich zu fühlen, Tyler nicht aufgehalten oder nichts an seinem Verhalten bemerkt zu haben – vor allem hier hätte ich mir gewünscht, dass nachgebohrt wird. Zwar gab es viele Rückblicke – auch einige passende – allerdings überwog für mich der schlagende Vater und die kranke Mutter, in der die Festigung oder das Verantwortungsgefühl gegenüber seinem jeweiligen Geschwisterchen verloren ging. Im Endeffekt gab es sehr effiziente Ansätze, allerdings verlaufen die Perspektiven in meinen Augen zu einfach, zu sehr nach schwarz/weiß. Mir persönlich war es in dieser Hinsicht zu wenig komplex, zu einseitig. Ich vermisse hier eine gewisse Tiefe der Charaktere (mehr Reflexionen, mehr Nachbohren, mehr Fragen). Auch der Schreibstil ist an manchen Stellen etwas platt, wobei es hin und wieder spannende Wendungen gibt und zumindest die Gestaltung des Endes wirklich hervorragend gelungen ist.
















