Translatio Babylonis unsere orientalische Moderne
Was, wenn sich jenseits gängiger Definitionen, Legitimationen und Konstruktionen des "Orients" eine andere Genealogie auftäte? Eine historische Linie, die zeigte, wie die westliche Moderne "das Orientalische" in seinem Herzen findet und gegen sich wendete? Das erforderte eine gründlich neue Einschätzung der westlichen Reden vom Orient. Der vorliegende Band bietet eine solche grundsätzliche Neuveranlagung des Orient-Komplexes, der auch und erst recht nach den neueren Orientalismus-Gemeinplätzen der postkolonialen Welle nicht überflüssig ist. Das Paradigma 'Orient' zur Beschreibung und Kritik der Moderne verdankt sich dem Einfluss der deutschen Mythenforschung seit der Romantik. Das antike Rom selbst mag die ganze Welt erobert haben; aber es selbst wurde von orientalischen Kulten beherrscht, war der revolutionäre Befund Friedrich Creuzers zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Erst das Christentum als der ganz 'andere orientalische Kult' konnte diese schockierende Wahrheit überwinden. Konnte er das? Der Band Translatio Babylonis, der mit 'Babylon' das erklärte Reizwort der Nachaufklärung mit der Leistung der westlichen Traditionsvermittlung kurzschließt, geht den wissensgeschichtlichen Formations- und Rezeptionsmechanismen des Orients im Medium der Literatur nach. Von ihren Ursprüngen in der griechisch-römischen Antike bis ins Europa des 19. Jahrhunderts rücken die Beiträge die narrativ-hegemonialen Überschreibungsstrategien zwischen Orient und Okzident in den Blick. Interdisziplinär und textnah erkunden sie Phänomen und Persistenz einer veritablen translatio Babylonis in ihren Vorgeschichten, Randerscheinungen und mythen-analogen Strukturen, die den zeitgenössischen politischen Diskursen häufig verborgen bleiben. Die Beiträge von etablierten Fachleuten wie Susanne Elm, John Hamilton, Eckart Goebel, Michèle Lowrie, Albrecht Koschorke, Andrea Polaschegg und jüngeren Forschern, die sich dieses Thema zum Ausgangspunkt weiterführender Arbeiten gemacht haben, nähern sich dem Orientparadigma der westlichen Welt von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus. Gemeinsam ist ihnen, daß sie den Blick schärfen für eine andere Konfliktgeschichte von Orient und Okzident und das heißt nicht nur für eine andere Literaturgeschichte, sondern für eine alternative Politik.