"Mit dem Gesicht nach vorne gewandt" erzählte Tradition in der deutsch-jüdischen Literatur
Vergangenheit ist in der judischen Kultur nicht ein weit zuruckliegendes Ereignis, das rekonstruiert werden muss, sie steht nicht hinter, sondern vor uns. Das Wort "panim" ("Gesicht") steckt darin, das auch "in seiner Gegenwart" bedeutet. Deutsch-judische Literatur hinsichtlich ihrer Einstellung zur Tradition zu befragen, fuhrt zu der Uberlegung: Wohin wenden die Autoren ihr Gesicht? Wo stehen sie in der Uberlieferungskette? Stehen sie mit dem Rucken zur Vergangenheit oder wenden sie ihr - wie einst die Propheten - das Antlitz zu? Es gab im Verlauf der judischen Geschichte vor der Shoa zwei grosse Zasuren, die die Kontinuitat von aussen unterbrochen haben, die in der Dichtung intensiv reflektiert werden und die teilweise zu einem Abwenden von der Tradition gefuhrt haben: Der Einbruch der griechischen und arabischen Philosophie in das Judentum im spanischen Mittelalter und in der Neu zeit die Haskala, die judische Aufklarung. Jedesmal musste sich die judische Literatur danach neu orientieren und positionieren, wobei sie stets bemuht war, die beiden Pole Wortmagie und Wortzeichen auszubalancieren. Diesen jeweils sehr unterschiedlichen Reaktionen wird in der Studie anhand einiger signifikanter Beispiele aus der deutsch-judischen Literatur nachgegangen.