Le Conte en palimpseste
Keine andere Epoche ist so reich an Marchenstoffen und -motiven wie das Mittelalter, und in keiner anderen Epoche hat das Marchen einen so tiefgreifenden Einfluss auf die Schriftkultur gehabt wie im franzosischen Mittelalter. Von der Marchenstruktur der Artusromane uber Marchenelemente der epischen Chanson de geste bis zu der Literatur der sog. kleinen Formen wie Lai und Exempel ist die Bedeutung einer Gattung spurbar, die gleichwohl als solche nicht existiert und erst in Renaissance und Barock wieder entdeckt werden wird. Bis dahin konnte man wie auf einem uberschriebenen Palimpsest von Marchenspuren sprechen, die durch die manifeste Textstruktur okkultiert werden. Offensichtlich ist die autonome mythische Stimme mit mittelalterlicher Geistigkeit nicht vereinbar, doch zugleich faszinierend genug, um in der hofisch-klerikalen Schriftkultur neu instrumentalisiert zu werden. Die vorliegenden Kapitel, zum Teil bereits publiziert und zum Teil neu verfasst, schliessen sich unter diesem Aspekt der entfremdeten mythischen Stimme zu einem Panorama der Refunktionalisierung von Marchenstoffen in den Grossgattungen Roman und Chanson de geste zusammen. Im Gegensatz zu dem reichen Marchenmaterial, das wir z. B. in den Predigtexempeln finden, ist die Auswahl auf wenige bekannte Stoffe begrenzt, die hier erstmals in einer gemeinsamen funktionsgeschichtlich ideologischen Perspektive zusammen behandelt werden.