Sintflut und Gedächtnis Erinnern und Vergessen des Ursprungs
Der biblische Mythos von der Sintflut erzählt nicht nur von einer Katastrophe im Sinne von Schrecken und Strafe, sondern auch von einer Katastrophe des kollektiven Erinnerungsverlustes: Das Gedächtnis der Menscheit mußte sozusagen durch das Nadelöhr der Reduktion auf ein einziges Menschenpaar. Was ging dabei verloren? Was wurde aus dem vollkommenen Wissen Adams und der frühen Patriarchen? Was wurde davon erinnert, überliefert? Und auch von einer anderen Perspektive läßt sich nach der Erinnerung fragen: Wie wurde die Katastrophe der Sintflut selbst erinnert? Wurde ihr Schrecken verdrängt, vergessen? Und lebte das Verdrängte fort, indem es der Kultur der Noachiden um so nachhaltiger seinen Stempel aufprägte? Fragen dieser Art sind keineswegs erst nach Freud gestellt worden. Im 17. und 18. Jh. entwickelte sich eine Aufmerksamkeit für die Sintflut, in der sich naturwissenschaftliche Forschung über Fossilien mit chiliastischer Erwartung, mit der Differenzierung von Esoterik und Exoterik, mit Religionskritik, mit Kulturtheorie und mit politischer Anamnese des Despotismus verband. Boulanger etwa sah die gesamte Kultur der Antike als Bewältigungsversuch einer durch den Sintflut-Schrecken geprägten Menschheit an und deutete die heidnischen Mysterien als Antidotum gegen diesen Schrecken, als >affektive Inversion einer depressiven Mentalität der Angst. Die im Moses-Diskurs transportierten Themen der Idolatrie, des Gesetzes, der Esoterik, der Umkehr und des Spinozismus - allesamt Schlüsselprobleme der frühen Neuzeit - gehen im Sintflut-Diskurs ihre neuen und eigenen Verbindungen ein. Sintflut und Gedächtnis