Reviews

Die Protagonistin kehrt während ihres Studiums für die Hochzeit ihrer Kindheitsfreund*innen in ihren Heimatort zurück. Während dieses Besuchs lässt sie ihr Aufwachsen hier Revue passieren und die Leser*innen erhalten Einblick in ein Leben geprägt von erfahrener Bildungsungerechtigkeit und Rassismus. So "subtil", dass es niemand mitzubekommen scheint. So schmerzhaft, wie es sich als roter Faden durch ihr und das Leben ihrer Eltern zieht. Dieser Roman sollte zur Grundlektüre von Lehramtstudierenden gehören.






Highlights

»Wieso hast du dich nicht gewehrt?« Immer verzweifelter wurden ihre Stimmen, immer mehr Fragezeichen reihten sich aneinander, und ich wollte rufen, dass es von vornherein kein Ich gegeben hate, das sich hätte wehren können, nichts war je von mir ausgegangen, alles ist immer nur auf mich eingefallen, ich habe in einer Grammatik gelebt, in der sich wehren von vornherein nicht vorgesehen war.

Aber ich hab mir auch nie Mühe gegeben«, er blickte mir in die Augen, als hätte er mir gerade etwas Besonderes verraten. »lch schon, ich habe mir Mühe gegeben, und ich bin auch stolz darauf«, sagte ich. »Peh«, er stieß die Luft aus wie jemand, der über Mühe erhaben war. Wenn er sich Mühe gegeben hätte, wäre jeder neben ihm verblasst, davon schien er überzeugt, er hatte es bloß nie nötig gehabt.

Sie wussten, dass sie nur Lehrer geworden waren, weil ihnen nichts Besseres eingefallen war, und sie waren wütend auf die Jugend, die sie täglich vor sich hatten und die täglich weiter von ihnen abrückte. Sie waren wütend auf ihr unendliches Potential, das sie an sich selbst nie oder erst zu spät erkannt hatten, und am wütendsten wurden sie, wenn eins der Kinder schon jetzt damit begann, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und etwas zu mögen, das nicht die llias war; Seien es schrille Flokati-Pullover oder Pokémon-Karten; sie sahen darauf herab.

Eine Stimme schob sich in mein Bewusstsein, mit der ich nie iemand sprechen gehört hatte, die sich nicht an mich, son- dern an Herrn Kaiser richtete. »Wie ist es dazu gekommen?«, fragte sie ihn (nicht mich), »wie konnte dieses Kind durchs Raster fallen?« Herr Kaiser würde vielleicht das Gleichnis von Bildung als Haus anbringen, mein Keller sei ein instabiles Gewölbe, es sei nicht das richtige Fundament gegossen worden und so könne man nicht darauf bauen. Darauf sei es zurück- zuführen. (Und wirklich war mein Keller doch angefiüllt mit schimmligen Puppenkleidern und alten Schlittschuhen, da wo das Zahlenverständnis sitzen müsste.) Die Stimme, mit der nie jemand gesprochen hatte, würde es nicht dabei be- wenden lassen, sie würde ihn festnageln und die Frage noch- mal stellen, wie er an mir damals ein Exempel statuierte, wenn ich die Antwort nicht wusste und schwieg und schwieg und schwieg: »lch lasse euch da nicht raus.« Sie fragte: »Wie konnte dieses Kind durch die Maschen fallen? Wenn einem etwas angetan wird, dann ist er nicht selbst schuld daran; wenn einer in einem System versagt, das von vornherein auf sein Versagen angelegt ist, liegt die Schuld nicht beim ihm. Für wen ist das Netz gebaut. Für wen ist es ein Fangnetz, und für wen ist der Abgrund darunter bestimmt.